Gedichte & Texte



Vor langer, langer Zeit – einer Zeit lange vor unserer Erinnerung – lebte im Mittleren Rheintal eine schöne junge Frau. Ihr Name war Lore. Die Burschen der Gegend waren verrückt nach ihr, denn sie war gut gewachsen, hatte langes blondes Haar, das in der Sonne funkelte und ein hinreißendes Lachen, das fröhlich durchs Tal schallte. Einer war ganz besonders von ihr bezaubert. Er hieß Engelbert und wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr sein Herz zu Füßen legen zu dürfen. Sie aber schenkte seinem schüchternen Werben keine Aufmerksamkeit, denn sie hatte nur Augen für den flotten Rainer, der aus der Ferne gekommen war. Ihm wollte sie gefallen, ihn wollte sie con amore betören. Was ihr schließlich auch gelang! Eines Tages im Sonnenschein schaute Rainer sie voller Verlangen an. Eine so schöne Frau hatte er lange nicht mehr gesehen. Er wollte sie umspielen, sie fühlen, mit ihr zusammen sein. Lore und Rainer tändelten und bändelten. Sie küssten sich im Mondschein, ließen keine Handbreit mehr zwischen sich sein. Es war eine wunderbare Zeit, die das Mittlere Rheintal in ein zauberhaftes Licht rückte. Eines Tages aber überfiel Rainer, der aus der Ferne gekommen war, wieder die Sehnsucht nach der großen weiten Welt. Das, was ihn mit Lore verband, reichte ihm nicht mehr. Er sah keinen Sinn darin, weiterhin mit ihr zusammen zu sein. Es zog ihn weiter und weiter. Er wollte mehr vom Leben wissen und noch andere Frauen küssen. Er weinte und erklärte Lore, dass es vorbei sei. Sie konnte es nicht glauben – er würde doch nicht ihr Herz rauben und dann einfach weiterziehen. Schon am nächsten Tag würde er es bereuen und sie um Vergebung bitten. Doch als der Morgen kam, war Rainer fort und das Mittlere Rheintal für Lore ein trostloser Ort, in dem zwischen grauen Felsen ein langer dunkler Strom dahintrieb, aus dessen unergründlichen Tiefen ein trauriges Lied emporstieg. Wie konnte ihr Leben ohne ihn weitergehen? Sie tobte, sie schrie, sie hasste, sie raste. Ihr Herz war schwer wie ein Stein. Engelbert litt heimlich mit ihr und hoffte, sie würde sich beruhigen und eines Tages erkennen, wie sehr er sie liebte. Doch Lore warf sich in ihrer zornigen Verzweiflung in den Fluss und machte mit dem grausamen Verdruss auf ihre Art Schluss. Mit ihrem Herzen schwer wie ein Stein sank sie dem Grund des Stromes entgegen. Der Wassergott, der an diesem Tag zufällig im Rhein unterwegs war, sah Lore aufs Flussbett sinken und weil sie so schön und so jung war, hatte er Erbarmen und verwandelte sie im allerletzten Moment in eine Nixe, damit sie im unterirdischen Reich des Wassers weiterleben konnte. Nun hatte Lore keine Beine mehr. Ihr Körper endete wie bei allen Nixen und Wassermännern in einem Fischschwanz. Sie schwamm den Rhein aufwärts und abwärts, streichelte Fische und spielte im Schlamm mit den anderen Wasserwesen. Manchmal schaute sie wehmütig vom Wasser auf die herrliche Landschaft, auf die Schlösser, die auf den Bergen und Hügel thronten und auf die Siedlungen, in denen die Menschen wohnten. Hin und wieder erhielt sie die Erlaubnis, aus dem Wasser hervorzutauchen. Dann setzte sie sich dort, wo sie sich um ihr Menschsein gebracht hatte, im Mondschein auf einen Felsen, an dem die großen Schiffe vorbeiglitten und sang lieblicher als irgendein Mensch es je vermocht hätte vom Wasser und seinen tiefen Gründen. Das war ihr Vermächtnis. Betörend hallte ihre süße Stimme von den gegenüberliegenden Felswänden zurück und verwirrte den Schiffern den Sinn. Das Abtauchen in den Rhein fiel Lore von Mal zu Mal schwerer. Sie liebte den Duft der menschlichen Welt, die Frische der Luft, das Zwitschern der Vögel. Eines Tages ignorierte sie die Bedingungen des Wassergottes und ging ohne Erlaubnis an Land. Da bannte sie der Gott des Wassers in den Felsen, den die Menschen Ley nannten, und verwehrte ihr für alle Zeit die Rückkehr ins Wasserreich. Das machte Lore zu einem gefährlichen Wesen. Sie und Ley wurden eins in den Jahrtausenden, die durch die Nächte zogen wie durch eine einzige Nacht. Oft erschien Lore-Ley nun den vorbeifahrenden Schiffen und ihrer Mannschaft. Auf der höchsten Spitze des Felsens saß sie mit wehendem Haar, winkenden Armen, die aussahen wie weiße Schwanenflügel, und einer Stimme, in der der Bach murmelte, das Meer rauschte und die Winde sangen. Rettungslos verfielen viele Matrosen diesem Gesang. Wenn sie sich dazuhin noch vom Schimmer ihres Hauptes blenden ließen, gerieten ihre Schiffe in schäumende Stromschnellen, zerschellten am Schieferfelsen und sanken mitsamt Ladung in wirbelnde Tiefen. Die Seeleute fanden den Tod, die Schiffe zerbarsten. Der Felsen aber blieb unberührt. Mit Lore verwoben stand er regungslos im Rhein. Niemand konnte sich Lore-Ley nähern, ohne vom Tode bedroht zu sein. Auch Engelbert, der einst – von Lores Stimme angezogen - zu nahe gekommen war, stürzte in die Tiefe und wurde zerschmettert. Es begab sich, dass der Teufel auf dem Rhein unterwegs war und an Lore-Ley vorbeikam. Er fand die Stelle reichlich eng. Deshalb beschloss er, diese Stelle auf Teufel komm raus zu weiten. Dazu wollte er den gegenüberliegenden Felsen verschieben oder in tausend Stücke brechen, sodass der Rhein endgültig versperrt sein würde. Doch er hatte seine Rechnung ohne Lore-Ley gemacht. Als er sich an Lore in Ley lehnte, um den Berg gegenüber in Bewegung zu setzen oder zum Einsturz zu bringen, fing diese an zu singen. Sie sang und sang, wie sie noch nie gesungen hatte. Ein wundersames Lied, das sogar dem Teufel in Mark und Bein fuhr. Ihm wurde teuflisch anders zumute. Eine Sehnsucht, ein Begehren nach Lore-Ley umfing ihn. Er taumelte und musste geschwächt von seinem Vorhaben ablassen. Lore-Ley aber sang weiter und weiter mit dieser süßen Stimme, die dem Teufel die Sinne verwirrte und ihn machtlos machte. Als sie endlich verstummte, eilte er, so schnell er nur konnte, davon. Schwarz eingebrannt blieb jedoch ein Andenken an seine Gestalt in der Felswand zurück. Nie wieder traute sich der Teufel von da an, der Lore-Ley des Rheins nahe zu kommen. Noch heute ist die Lore-Ley ein Mahnmal der Achtsamkeit inmitten einer der schönsten Landstriche Deutschlands.

(Die Lore-Ley-Sage neu erzählt und verfasst von Uschi Constanze David in Anerkennung an eine ganz besondere deutsche Gegend)



Die Wolkenlosigkeit des beginnenden Tages hatte für ihn etwas Beglückendes und Bedrückendes zugleich. Denn urplötzlich überfiel ihn eine vibrierende Sehnsucht, die seinen Körper schmerzlich zusammenzog. Für einen Moment hatte er angesichts dieser bedingungslos sich Bahn brechenden und unaufhaltsamen Sonne eine Ahnung von der Absolutheit wahrer Liebe, die sich einfach nähert – unbesehen, unaufgefordert, komme, was da wolle. („Der Zigarrenmann“)